Offener Brief an die Bundesregierung zur geänderten Altersempfehlung für den Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca

Am 30.3.21 gab die Bundesregierung bekannt, dass sie der geänderten STIKO-Altersempfehlung für den Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca folgen wird. Dieser Impfstoff soll ab jetzt nur noch bei Personen ab 60 Jahren eingesetzt werden. 

Epidemiologinnen und Epidemiologen vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS aus Bremen warnen in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den Folgen einer verlangsamten Impfkampagne durch diese Entscheidung. Sie empfehlen ein systematisches Abwägen des Schadens, der sich aus der möglichen seltenen Nebenwirkung ergeben kann, gegenüber dem Schaden, der sich durch eine Verzögerung der Impfkampagne ergeben wird.

Lesen Sie hier den kompletten Brief im Wortlaut: 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

wir wenden uns an Sie, um auf die drohenden Konsequenzen Ihrer Entscheidung zum Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca hinzuweisen. Wenn es dadurch zu einer Verzögerung der Impfkampagne kommt, stehen Schaden und Nutzen in einem sehr schlechten Verhältnis. Jede Woche Verzögerung der Impfkampagne in Deutschland fordert 1000 Menschenleben – Tendenz steigend.

Am 30.3.21 wurde bekannt, dass die Bundesregierung der geänderten STIKO-Altersempfehlung für den Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca folgen wird, d.h. dieser Impfstoff soll ab jetzt nur noch bei Personen ab 60 Jahren eingesetzt werden. Der Grund: In Deutschland ist bei 12 pro einer Million Personen, die den Impfstoff von AstraZeneca erhalten haben, eine Sinusvenenthrombose aufgetreten; drei pro einer Million Geimpfter sind daran gestorben. Die betroffenen Personen waren fast alle unter 60 Jahre und überwiegend Frauen. Ob ein kausaler Zusammenhang besteht, ist derzeit noch nicht klar. Sie rechtfertigten die Entscheidung für die geänderte Altersempfehlung mit folgenden Worten: "Vertrauen entsteht aus dem Wissen, dass jedem Verdacht, jedem Einzelfall nachgegangen wird". Und weiter sagten Sie, Vertrauen in die Impfstoffe sei wichtig – auch wenn die Entscheidung Folgen für die Impfkampagne haben werde.

Die hier zeichnenden Epidemiologinnen und Epidemiologen weisen mit Nachdruck darauf hin, dass es sich bei den „Folgen für die Impfkampagne“ nicht um Verzögerungen handeln darf. Wir fordern ein systematisches Abwägen des Schadens, der sich aus der möglichen seltenen Nebenwirkung ergeben kann, gegenüber dem Schaden, der sich durch eine Verzögerung der Impfkampagne ergeben wird.

Konkret: 

Wenn alle Personen in Deutschland in der Altersgruppe 35-54 Jahren mit dem Impfstoff von AstraZeneca geimpft werden würden, würde man etwa 77 Todesfällen durch Hirnvenenthrombosen erwarten, vorausgesetzt der Zusammenhang wäre kausal. Berücksichtigt man, dass die Fälle überwiegend bei Frauen aufgetreten sind, reduziert sich die Zahl der T odesfälle.

Dem ist Folgendes gegenüberzustellen: Alleine die Infektionen, die für die Altersgruppe 35-54 Jahren im März gemeldet wurden, werden erwartungsgemäß zu 155 Covid-19-bedingten Todesfällen in dieser Altersgruppe führen. Die Infektionen, die über alle Altersgruppen hinweg im März gemeldet wurden, werden zu ca. 4000 Todesfällen führen. Pro Woche ergeben sich daraus 1000 Todesfälle, die man durch eine rechtzeitige Impfung hätte vermeiden können, d.h. jede Woche, um die sich die Impfkampagne weiter verzögert, fordert ca. 1000 Menschenleben. Die Tendenz ist steigend, da die Inzidenzen steigen und sich derzeit gefährlichere Virusvarianten ausbreiten. Das Leid durch schwere Verläufe und durch Spätfolgen der Erkrankung sowie der gesellschaftliche Schaden und die gesundheitlichen Kollateralschäden, die sich aus dem sich verlängernden Lockdown ergeben, sind hier noch nicht berücksichtigt.

Wenn die geänderte Altersempfehlung für den Impfstoff von AstraZeneca zu einer weiteren Verzögerung der Impfkampagne führt, wird der Schaden dieser geänderten Empfehlung deutlich überwiegen. In der jetzigen Situation ist es sehr kritisch, einseitige Entscheidungen zu treffen, die nur auf mögliche seltene Nebenwirkungen fokussieren, auch wenn diese Schicksale tragisch sind und man sie vermeiden möchte. Ein Abwägen des Schadens durch eine seltene Nebenwirkung gegen den Schadens durch eine Verzögerung der Impfkampagne ist unumgänglich. Die Lage ist sehr ernst und es muss nun alles daran gesetzt werden, die Impfkampagne zu beschleunigen, anstatt sie weiter zu verzögern. Auch muss dringend dafür gesorgt werden, dass die betroffenen Personen in den jüngeren Altersgruppen zeitnah ein Ersatzangebot erhalten.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Ulrike Haug

Prof. Dr. Iris Pigeot

Prof. Dr. Wolfgang Ahrens

Prof. Dr. Hajo Zeeb

Prof. Dr. Vanessa Didelez

Prof. Dr. Krasimira Aleksandrova 

Prof. Dr. Marvin Wright

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